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Das eigentlich Ich des Sprechers 1
kann nicht mehr allein beanspruchen, Zentrum der Persönlichkeit zu
sein, denn dem Herzen und dem damit verbundenen "tumben willen"
(MF 47,22) tritt nun ebenbürtig der Leib gegenüber.
"Lip" ist hier noch Körper, d.h. sinnlich - sichtbare
Erscheinung des Menschen, zugleich aber schon eine ihm innewohnende Willensrichtung,
die dem "herze", oder besser gesagt der Seele, gegenübersteht.
Es kommt hinzu, dass "herze" und "lip" auf
der einen Seite Teile des hier sprechenden Ichs sind, auf der anderen Seite
aber als eigenständige Personen handeln.
Nun ist aber nicht zu verkennen, dass der Sprecher zu
Beginn des Liedes um größte Objektivität bemüht ist
(Strophe l). Nachdem er die beiden Kontrahenten "herze" und "lip" vorgestellt
hat, fasst er den strittigen Punkt ins Auge:
"diu wellent scheiden"
(MF 47,9).
Der Sprecher tritt hier als Berichterstatter auf; indem
er das Wort ergreift, verlässt er den Standpunkt des bloßen
Zuschauers und wird selbst zur "persona dramatis".
In der zweiten Strophe bezieht der Sprecher Stellung.
Er ergreift und vertritt die Partei des Leibes. Hatte der Sprecher
gehofft, durch sein entschiedenes Auftreten für den Leib das Herz
von seinem Wollen abzubringen, so muss er am Ende der zweiten Strophe erkennen,
dass das Herz nicht zu belehren ist :
"nu sihe ich wol daz im ist gar unmaere
wie ez mir an dem ende süle ergan."
(MF 47.23.24).
In der dritten Strophe spricht der Dichter das Herz direkt
an. Hier kümmert ihn weder das Schicksal des Leibes noch sein
eigenes.
Das Herz wird "arm" genannt, was es vorhat, ist eine
"not" und ein "wagnis" :
"wie torstest eine an solhe not ernenden?
wer sol dir dine sorge helfen enden
mit solhen triuwen als ich han getan?"
(MF 47,30-32).
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1. 0. Ludwig, in ZDA 93 (1964), hat die
Rolle des Sprechers in MF 47,9 herausgearbeitet.
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