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Die schönsten deutschen
Heimatsagen
Der Mäuseturm bei Bingen
(1. Fassung)
Wo aus dem Rheinstrom unterhalb von Bingen weiße Klippen gefahrdrohend
emporragen und nur einen schmalen Raum -- das sogenannte Binger Loch --
für die Durchfahrt freilassen, da erhebt sich in der Nähe der
Ruine Ehrenfels und unweit des Rheinsteins inmitten der schäumenden
Fluten ein finsteres, halbzertrümmertes Gemäuer. Es ist "Hattos
Turm". Von Eulen und Fledermäusen umflattert, erscheint er dem Beschauer
wie das Haus eines Bösen, wie das Denkmal eines ungeheuren Frevels.
"Mäuseturm" nennt die Sage jenes Gemäuer, von dem der Schiffer
mit Grauen das Gesicht abwendet.
Einst lebte zu Mainz ein Erzbischof namens Hatto, dessen Herz rauh
und hart war und unempfänglich gegen die Not der Bedrängten.
Um diese Zeit brach am Rhein und rings in der Gegend eine große Hungersnot
aus, so daß viele Menschen umkamen. Der Bischof jedoch, dessen Speicher
mit Korn gefüllt waren, öffnete diese dem Wucher, aber nicht
den Armen seines weiten Sprengels.
Als nun die Not seiner Untertanen größer und größer
wurde, fielen sie in Scharen zusammen und flehten den gefühllosen
Mann um Erbarmen und Nahrung an, und als dies umsonst war, murrten sie
und fluchten in ohnmächtiger Wut dem Tyrannen. Und ob sein Herz sich
nicht vor Mitleid regte, wurde es doch rege vor Zorn. Er ergrimmte und
schickte seine Schergen aus, um die Murrenden zu fangen, sperrte sie in
eine große Scheune ein und ließ Feuer daranlegen. Als die Unglücklichen
von den Flammen ergriffen wurden und ihr Todesgeschrei bis in den Bischofspalast
drang, bis herauf an die Ohren des Unmenschen und aller derjenigen, die
mit ihm an der üppigen Tafel saßen, da rief er in teuflischem
Hohn: "Hört ihr die Kornmäuslein unten pfeifen ?"
Aber still wurde es unten, und die Sonne verhüllte ihr Antlitz.
Im Saal wurde es dunkel, und die angezündeten Kerzen vermochten nicht,
die Dämmerung zu durchbrechen, die den finsteren Mann von nun an umlagerte.
Und siehe! Im Saal begann es sich zu regen, und aus allen Winkeln, aus
den Ritzen des Fußbodens, zu den Fenstern herein und von der Decke
herab krochen und liefen Scharen nagender Mäuse und erfüllten
alsbald alle Gemächer des Palastes. Ohne Scheu sprangen sie auf die
Tische und benagten die Speisen vor den Augen der erstaunten Versammlung.
Immer neue kamen hinzu, und nicht die Brosamen auf der Tafel blieben verschont
und nicht der Bissen, der zum Munde geführt wurde.
Da ergriffen Furcht und Entsetzen alle, die das sahen, und seine Freunde,
seine Knechte und Mägde flohen die Nähe des Geächteten.
Der Bischof aber wollte entrinnen, bestieg ein Schiff und fuhr den
Rhein hinab bis zu jenem Turm, der von den Wellen des Stroms umspült
wird. Dort wähnte er sich vor seinen unersättlichen Peinigern
sicher. Doch Tausende von Mäusen krochen wiederum mit Gepfeife aus
alIen Wänden hervor. Vergebens erstieg er bebend vor Angst, stumm
vor Entsetzen die höchste Warte. Auch dahin folgten sie ihm, und heißhungrig
fielen sie den unmenschlichen Spötter an. Bald war nichts nichts von
ihm übrig.
So lautet die Sage von jenem einsamen Turm mitten im Rhein.
Der Mäuseturm bei Bingen
(2. Fassung)
Am Eingang zur schauerlichen Felsschlucht, in die sich der Rhein bei
Bingen hineinzwängt, erhebt sich auf dem rechten Ufer des Stroms zwischen
den Gesträuchen und Weinbergen der Rüdesheimer Höhen die
Ruine der stolzen Burg Ehrenfels; inmitten der brausenden Fluten des Rheins
aber ragt auf einer Felseninsel ein düsteres Gemäuer empor, das
unter dem Namen "Mäuseturm" oder "Hattos Turm" berüchtigt geworden
ist. Das alte Bauwerk steht hart bei dem sogenannten Binger Loch, wo der
Strom über Klippen rauscht und nur eine enge Durchfahrt freiläßt,
die man einst für sehr gefährlich hielt; man glaubte, daß
die Trümmer von Fahrzeugen, die das Binger Loch verschlungen, an der
Felsenbank von St. Goar wieder zum Vorschein kämen. Aber seit langer
Zeit kennt der Schiffer diesen Weg so genau, daß die Durchfahrt nur
bei Sturm bedenklich ist; jetzt sind die meisten der gefährlichen
Felsen gesprengt.
Im Anfang des zehnten Jahrhunderts lebte in jener Gegend ein gewisser
Hatto, der durch Wohlleben, Übermut und Hartherzigkeit weithin verrufen
war. Der ehrgeizige Mann wurde schließlich zum Erzbischof von Mainz
erhoben. Nachdem er jahrelang seines Amtes gewaltet hatte, wurde das gesegnete
Land am Rhein von schweren Plagen heimgesucht. Schwüle Hitze brannte
die reichen Felder aus; eine starke Wasserflut vernichtete alle Hoffnung
auf die Ernte; überall herrschte Not und Teuerung. Nur Hatto spürte
nichts davon; denn seine Speicher waren gefüllt, und er scheute sich
auch nicht, üblen Getreidewucher mit seinen Vorräten zu treiben.
Die Not stieg immer höher, und das arme, ausgehungerte Volk bestürmte
den reichen Kirchenfürsten mit der flehentlichen Bitte um Brot. Der
hartherzige Mann aber wollte nicht an seine Pflicht erinnert werden und
ließ die Armen fortjagen; es seien nur Müßiggänger,
sagte er, die sich ihr Brot auf leichte Art durch Bettel erwerben wollten.
Doch nur um so stärker erscholl die Klage, man hörte sogar Worte
der Verwünschung, aus der die Verzweiflung zu erkennen war. Denn der
Erzbischof hatte sich beim Volke durch Bedrückungen schon längst
verhaßt gemacht; immer neue Bittsteller vermehrten die Schar der
Flehenden, die schließlich mit Gewalt zu drohen schienen, da er ihrem
Flehen kein Gehör schenkte.
Hatto sah darin einen Aufstand, rief seine Waffenknechte herbei und
befahl ihnen, die frechen Empörer zu ergreifen. Die Söldner stürmten
heran und zerstreuten die zusammengerottete Menge nach kurzem Widerstand.
Groß war die Zahl derer, die man gefangen ins Schloß führte.
"Sie trachten nach meiner Frucht", erklärte Hatto mit bitterem
Hohn. "Gut! Man sperre sie in eine der Scheunen!" Die Knechte schleppten
die Ärmsten hinein, und der grausame Herr befahl, die Scheune in Brand
zu stecken. Bald loderten die Flammen ringsum empor, und das Klagegeschrei
der Unglücklichen, für die jeder Weg zur Rettung verschlossen
war, drang zum Himmel. Mit satanischem Gelächter rief der Bischof:
"Hört doch, hört, wie die Kornmäuse pfeifen!" Den Aufruhr
hatte der Bösewicht nun unterdrückt, der Strafe Gottes aber vermochte
er nicht zu entrinnen.
Als sich Hatto am Abend nach dem Mahle in sein prächtiges Schlafgemach
zurückzog, hörte er plötzlich ein sonderbares Gepolter und
ein durchdringendes Pfeifen. Kalter Schauer fuhr ihm durch die Glieder.
Mit einemmal sprangen Mäuse aus allen Wänden und Ritzen und fielen
über den erschrockenen Mann her. Heulend rief er seine Diener zu Hilfe;
aber sie konnten den dichten Haufen der Tiere nicht, abwehren; die Leute
bekreuzten sich entsetzt und flohen. Endlich warf sich Hatto zu Pferd,
eilte mit einem Trupp seiner Knechte stromabwärts und suchte Schutz
in der Burg Ehrenfels. Doch die Plagegeister wimmelten auch hier durch
das ganze Schloß, ihn mit scharfen, quälenden Bissen verfolgend.
Nun erwachte Hattos Gewissen, er fühlte seine Sünde und flehte
zum Himmel um Hilfe. Aber die gerechte Strafe, die ihn treffen sollte,
war noch nicht vollendet. Er floh daraufhin auf einem Kahn zu dem einsamen
Turm, der sich auf der kleinen Rheininsel erhob, und - ließ dort
sein Bett an Ketten aufhängen. Aber die Mäuse schwammen durch
die Flut, kamen ihm nach, schlüpften durch alle Gitter und Löcher
und nagten mit scharfem Biß so lange an seinem Leib, bis der geistliche
Würdenträger den Geist aufgab. Ja, selbst sein Name, der in die
Tapeten des Gemachs gewirkt war, wurde von den Tieren zernagt.
Kaum war dies geschehen, so zerstreute sich das ganze Heer der Mäuse
und wurde nicht mehr gesehen. Der Ort aber, wo der Bischof seinen gerechten
Lohn gefunden, heißt von jener Zeit an der "Mäuseturm". Noch
oft soll bei Nacht, wenn der Sturm braust und die Woge grollt, sein Geist
gleich einer grauen Wolke das uralte Gemäuer umschweben; somit hat
der Bischof wegen seiner schweren Schuld noch immer nicht die ewige Ruhe
gefunden.
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