In den Liedern Hartmanns zeichnet sich eine Folge seelischer Entwicklung ab, die man auf vier Stufen sich entfalten sieht. Wapnewski  vergleicht sie mit den Jahresringen eines Eaumes, da sie ineinander übergehen wie sie sich zugleich voneinander unterscheiden lassen. Die erste Stufe läßt den Dichter als den gelehrig - unkritischen Schüler des provenzalisch - deutschen Minnesangs erkennen. Hier bedeutet es für ihn schon das höchste Glück, sich der Herrin nähern zu dürfen ohne die Anwesenheit anderer in Kauf nehmen zu müssen. Wie so oft im Minnesang steht der harmlose Anlaß in keinem Verhältnis zu dem pathetischen Überschwang des hochgeschraubten Gefühls. Hartmann scheint das selbst so empfunden zu haben, denn in der zweiten Stufe offenbart er das persönliche Leid, das ihm durch den Minnedienst erwächst. Das Wesen dieser Entwicklungsstufe ist die Kritik, der Protest gegen das Minneleid. Der Kritiker bricht in ihm durch und damit auch der Didaktiker und Theoretiker. Er identifiziert sich nicht mehr vorbehaltlos mit den Dingen, sondern zeigt ihre Eigenarten auf und kommentiert sie. Auf der dritten Stufe erfolgt die Absage an die konventionelle Form des höfischen Minnedienstes. Nach dem Tode seines Dienstherrn ist im Leben des Dichters kein Platz mehr für irdische Vergnügen. So nimmt er, auf der vierten Stufe, um der Seele des toten Herrn und um des eigenen Heils willen das Kreuz. Auf dem Stand dieser Entwicklung sind die Kreuzzugslieder Hartmanns von Aue entstanden, die in diesem Kapitel besprochen werden.
 

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1. P. Wapnewski, a.a.O., S. 33f.