Goethes Art der Naturbetrachtung 

Goethes naturwissenschaftliche Studien lassen sich nur aus der ganzheitlichen Betrachtungsweise des Dichters erklären.  
Infolge seiner Vielseitigkeit befaßte er sich nicht nur mit der Morphologie der Pflanzen und Tiere, sondern er schrieb auch Abhandlungen zur Geologie, zur Witterungslehre und zur Farbenlehre. Er plante zudem weitere Arbeiten, etwa über das Weltall, die Entstehung der Erde, die Elektrizität und die Abgrenzung des Menschen vom Tier. Die Idee, die dem Dichter vorschwebte, war ein großes Naturgedicht, in dem er alle Bereiche der Natur behandeln und in ihrem Zusammenhang deuten wollte. Goethe und mit ihm Novalis, Schelling und andere, meinten, daß ein Zusammenschluß der einzelnen Teilbereiche der Natur auf einer hüheren Ebene möglich sei. Seine Metamorphose-Gedichte stellen damit Teile eines großen Ganzen dar. Goethe hat,  wie so oft bei seinen Arbeiten,  nicht mit dem Anfang begonnen, sondern mit Abschnitten und Themen, die ihm besonders deutlich und reizvoll vor Augen standen. Daß gerade die Metamorphose der Pflanzen und die Metamorphose der Tiere zum Gedicht wurden, lag daran, daß Goethe sich mit diesen Problemen besonders intensiv beschäftigt hatte (*3)  und die Grunderkermtnisse ihm klar und eindeutig vor Augen standen.  
In diesem großen Werk didaktischer Poesie wollte er nicht auf die Vielfalt der Erscheinungen eingehen, so wie es für die analysierende Wissenschaft in ihren sachlichen Be-richten typisch ist, sondern er wollte das Allgemeine und Wesenhafte der ganzen Natur zusammenfassen und über die einzelnen Disziplien hinaus das alles Verbindende darstellen. Das Projekt wurde jedoch um 1800 aufgegeben in der Erkenntnis,  daß sich bei aller Vielfalt der Natur das Ganze nicht mehr zusammenfassen läßt.  
Das unüberwindliche Problem, an dem das Unternehmen gescheitert ist, war also die Univer-salität der Natur.  

Zum Geleit der fertiggewordenen Abschnitte dieses umfassen-den Naturgedichts sagt Goethe in seinen „Schriften zur Morphologie" :  

 „Mag daher das, was ich mir in jugendlichem Mute öfters als ein Werk erträumte, nun als  Entwurf, ja als fragmen-tarische Sammlung hervortreten, und als das, was es ist, wirken und  nutzen." 
 Aus: „Das Unternehmen wird entschuldigt" , Hamburger Ausg.  S. 54,  Zeile 16 - 19. 

Goethe sieht sich selbst als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt , zwischen der Natur und dem Menschen. Seine allgegenwärtige Forderung ist :  „Erkenne Dich selbst" . Der Mensch könne sich aber nur dann selbst erkennen, sagt Goethe, wenn er die Welt (=Natur) kennt, die er nur in sich und nur in ihr gewahr wird.  
In dem „Fragment" über die Natur („Tiefurter Journal",1783)  (*4) schreibt Goethe, in welcher Beziehung der Mensch zur Natur steht und wo sein Platz in ihr ist :  
 
 „Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen - unvermögend aus ihr herauszutreten,  und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in  den Kreislauf ihres Tages auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem  Arme  entfallen . 
 Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns  ihr Geheimnis nicht. Wir wirken ständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie. 
 Die Menschen sind all in ihr und sie in allen. Mit allen treibt sie ein freundliches Spiel, und  freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie treibts mit vi.elen so im ver-borgenen, daß sies zu  Ende spielt, ehe sies merken." 
 
Der Mensch selbst ist also ein integrierter Bestandteil der Natur, fest und unverrückbar mit ihr verbunden und von ihr abhängig. Indem er jedoch beginnt, die Natur zu verstehen, ihre Geheimnisse zu ergründen und ihre Ge-setze zu nutzen. stellt sich der Mensch über sie und verfügt darüber. Je tiefer man in die Natur eindringt, umso größer wird die Ehrfurcht und das Erstaunen; mit seiner Elegie „Die Metamorphose der Pflanzen" hat Goethe ein eindrucksvolles Mittel geschaffen, um dies deutlich zu rnachen.  
Von der Naturwissenschaft sagt Goethe, daß sie schauen solle. Damit ist bereits seine eigene Art, sich der Naturphänomene zu bemächtigen, charakterisiert.  
Das Auge ist bei ihm der vorherrschende Sinn - er selbst war sicherlich  „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt"  (*5) . Das bloße Anschauen einer Sache müsse übergehen in Betrach-ten, in Nachdenken, in ein Verknüpfen der Erscheinungen.  
So liest Goethe das verborgene Innere am sichtbaren Äußeren ab.  
  
Von einem Biologen fordert er  
 
 „So soll den echten Botaniker weder die Schönheit noch die Nutzbarkeit einer Pflanze  rühren; er soll ihre Bildung, ihre Verwandtschaft mit dem übrigen Pflanzenreiche unter- suchen; und wie sie alle von der Sonne hervorgebracht und besehienen werden, so soll er  mit einem gleichen ruhigen Blicke sie alle ansehen und übersehen  und den Maßstab zu  dieser Erkenntnis, die Data der Beurteziung nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der  Dinge nehmen die er beobachtet."   (*6) 
 



  
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